Mia schreibt: Morris ist wieder wach: »Einen kleinen Laden aufmachen. Du bedienst vorne, ich räume hinten die Regale ein.« Morris Zukunftspläne-Antwort!
»Was verkaufen wir?«
»Alles, was unsere Kunden wollen. Ich habe schließlich Marketing studiert. Wir machen Customers Relationship Management. Wir lesen Gedanken, wir haben im Laden all das, von dem unsere Kunden schon immer geträumt haben.«
»Obst und Gemüse?«
»Obst und Gemüse! Was willst du in der Zukunft?«
Wenn ich mal so still vor mich hin denken würde: Kinder! Da haben wir also eine voll ausgebildete Frau mitten im beruflichen Leben, die ihr Abtreibungstrauma bearbeiten will, indem sie sich Kinder wünscht. Das behalte ich aber erstmal für mich. Kommt Zeit kommt Rat.
»Kinder!« Ich behalte es nicht für mich. Dafür ist das hier zu ernst. Und zu schön, um wahr zu werden.
Morris guckt etwas eingeschüchtert. »Kinder!«
Themenwechsel. »Und natürlich ein super Job. Ohne Chef. Oder mit Chef, mit einem ganz tollen Chef.« In dieser Fragenrunde darf ich doch auch mal ein bisschen naiv sein oder?
»Einem geläuterten Chef wie mich vielleicht?«
»Ich würde dich nehmen. Wir müssten unsere Beziehung aber geheim halten. Ich trenne berufliches und privates strikt.«
»Hört sich aufregend an.«
»Mit mir ist es aufregend!«
Morris nickt ganz oft hintereinander. Lächelt. Macht wieder DIESES GESICHT. Ist nicht fair, Morris. Ist denn heute Tag des Lächelns?
Themenwechsel, die zweite. »Lass uns eine Runde im Garten drehen.«
Bestes Frühlingswetter. Etliche Paare sind in der Botanik. Im heftigsten Kontrast-Outfit: Bademantel trifft Joop-Kostüm. Oder Hilfiger-Poloshirt trifft Morgenrock. Die Konsumwelt in Frieden vereint mit der medizinischen Realität. Manche tragen sogar ultra-hippe Wägelchen bei sich, an denen der iTropf hängt. Denn sie sind so clear designt, wie es Apple-Jonathan-Ive nicht hätte besser machen können.
Morris ist nicht zu bremsen: »Frag‘ mich nach meine Rente.«
»Morris: Was stellst du dir für deine Rente vor?« Im Tonfall der Erzieherin aus dem Kindergarten.
»Ich war mal in Griechenland in einem Lokal. Besser gesagt, draußen im Garten. Wir waren da mehrmals. Am Erdgeschoss des Hauses gab es ein Zimmer mit kleiner Terrasse. Da saß ein Opa – der frühere Besitzer, sein Schwiegersohn hat das Lokal übernommen. Der saß da im Pyjama, der Opa meine ich. Vor der versammelten Gästeschar saß er da im Pyjama. Trank noch ein Gläschen Roten. Und verschwand dann im Bett. Könnte ich mir genauso vorstellen.«
»Und was machte die Oma vom dem Opa?«
»Die war immer bis in die Puppen wach. Unterhielt sich mit den Gästen. Räumte die Tisch ab.«
»Könnte ich mir genauso vorstellen. Für meine Rente meine ich.«
Wir lachen. Wir drehen noch eine Runde im Garten.
Morris ist ganz schön schlapp. Er ist ja auch viel mehr wach als sonst. Ich bremse ihn ein:»Willst du dich wieder hinlegen?«
»Der Geist sagt nein. Das Fleisch aber will ins Heiabettchen.«
»Ich brauche mal noch eine Info.«
»Sehr wohl, gnädige Frau. Was hätten’s denn gern?«
»Na ja, hat mit dem hier zu tun.« Ich zeige ihm die Puzzleteile.
»Ach das. Hast du es zusammen gebaut?«
»Habe ich. Würde ich gerne mit dir hier im Zimmer noch mal machen.«
»Ich kann’s blind zusammen setzen.«
»Dann los.«
Wir puzzeln. Alle Gesichter sind diesmal zu sehen, denn wir haben ja alle Teile. Wieder das Gruppenbild. Morris zeigt auf die Köpfe, erzählt, was sie machen.
»Alle bei dir aus der Abteilung?«
»Alle.«
»Also auch ….?«
Morris deutet auf einen Kopf. Das vorletzte Puzzleteil von dieser Woche: »Das Puzzle war ein Geschenk unser Assistentin an alle. Zur Erinnerung oder so.«
»Warum hast du es mir geschickt?«
»Vielleicht, um die Erinnerung endlich los zu werden?«
»Hat es funktioniert?«
»Natürlich hat es nicht funktioniert. Wird wohl für mich ein Lebenspuzzle bleiben.«
Ich schnappe mir die Teile, laufe zum Fenster. Frau Mia Holle lässt Puzzle-Schnee regnen! Die Teile schweben durch die Nacht.
Morris kommt aus seinem Bett, schaut nach unten, schaut nach oben, schaut mich an: »Danke. War längst überfällig.«
»You’re welcome. Eine meiner einfachsten Übungen. Jetzt aber wieder ins Bett, junger Mann.«
Er liegt, ich sitze an der Bettkante: »Wie war es eigentlich so, fast den ganzen Tag wach zu sein.«
»Ehrlich?«
»Ehrlich!«
»Es war wunderbar und das hatte zu allererst mal mit dir zu tun. Wenn ich gewusst hätte, wie viel Spaß es macht, sich mit dir zu unterhalten, hätte ich gleich am ersten Abend damit angefangen.«
»Zu spät.«
»Für den ersten Abend ja. Für die nächsten Abende aber ganz und gar nicht.«
»Was soll denn bei unseren ganzen nächsten Abenden so rauskommen?«
»Ein bisschen Nähe vielleicht?«
Jetzt müssten bei mir eigentlich die Alarmlichter blinken. Tun sie aber nicht. Dann ist auch keine Gefahr. Verlass‘ dich auf dein Gefühl, Mia.
»So eine Nähe vielleicht?« Ich setze mich aufs Bett.
»Mehr, als ich jemals zu träumen wagte.« Er richtet sich wieder auf.
»Und weiter?«
»So vielleicht.« Sein Arm auf meiner Schulter.
»Puh, ganz schön mutig, Mister Morris.«
»Mut ist mein zweiter Vorname.«
Er küsst mich. Ich küsse ihn. Wir küssen uns. Es ist so fantastisch, dass wir uns endlich küssen. Er schmeckt so fanstatisch, dieser Morris. Die Süße seiner Lippen vermischt sich mit dem Salz seiner Tränen, die da plötzlich auch noch sind. Die Welt hält kurz an. Im Zeitloch zwischen Vergangenheit und Zukunft, in der jetzigsten Gegenwart des heutigen Hiers finden wir uns. Wir können uns trösten für all das, was wir getan und erlebt haben. Es gibt kein falsch und richtig. Es gibt nur uns beide, so nackt, wie unsere Seelen gerade sind. Die Liebe tröstet Mia, die das Verliebtsein abgestreift hat. Die Liebe tröstet Morris, die er so lange nicht sehen konnte. Die Liebe umhüllt uns beide wie ein riesiger Schal. Je näher wir uns kommen, umso näher kommen wir unseren Ängsten. Wir dürfen diese Ängste haben, das ist ein Menschenrecht.
Ich krieche zu ihm ins Bett. Lange liegen wir zusammen. Sagen nichts. Denken nichts.
Morris schläft in meinen Armen ein. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als endlich auch schlafen zu können. Süß zu träumen wie Morris, die Alpträume gehen zu lassen, Ruhe zu finden mitten im Zentrum des Orkans. Dort weht kein Lüftchen.
Die vorbeifahrenden Autos hinterlassen an die Zimmerdecke so seltsame Lichter. Habe ich das letzte Mal als Kind gesehen. Jetzt sehe ich das hier wieder. Schlaf, Kindlein, schlaf. Mia geht ins Träumeland.
Mia und Morris sind im Pyjama und prosten mit ihren Gläsern der versammelten Abteilung zu. Alle sind fröhlich. Wir haben geheiratet. Konfetti fliegt über uns und auf uns. Flash Forward. Seine Hand in meiner Hand. Wir schwitzen. Ich drücke fest zu. Ich schreie.
Ich wache auf. Von meinem Schrei! Morris trägt einen Pyjama. Ich taste nach meinen Fingern: Wir sind anscheinend noch nicht verheiratet. Ich trage meine Klamotten von Samstag. Einschlafen. Right now.
Ich schwimme mit den Delfinen. Sie sind ganz eifrig bei der Sache. Ich lasse los. Sie schwimmen davon. Ich bleibe zurück. Ich bin nicht traurig.
Wieder wache ich auf. Höre das ruhige Atmen von Morris. Höre meine eigene Atmung. Dann darf ich ja schlafen.
Mia wird verfolgt. Sie flüchtet. Sie wird eingekreist von zwei Seiten. Sie steht auf dem Treppengeländer. Jetzt bin ich es plötzlich selbst: Ich schaue nach unten. Ich stehe auf dem Treppengeländer. Es gibt keinen Ausweg mehr. Doch: Springen. Endlich springen. Ich springe. Ich segele durch die Luft. Sterbe ich?
Ich wache auf. Eine Schwester schaut mich an: »Kommt schon wieder alles in Ordnung. Wir nehmen jetzt die Salbe.« Ich sehe massenhaft Tuben mit Salbe. War mir gar nicht aufgefallen. Ein Happy End, die päppeln mich schon wieder hoch.
Es piept. Die Krankenschwester schaut auf. Es piiiiiiept.
Jetzt wache ich noch mal auf. Hier sind ja richtig viele Leute. Kann ich was tun? Hallo, was kann ich tun? Hallo?